Aller Augen warten auf dich, Herr, und du gibst ihnen ihre Speise zu rechten Zeit.
Psalm 145,13 – Wochenspruch zum Erntedanktag
Erntedanksonntag. Die Kirche geschmückt mit reichen Gaben. Bunte Blumen, rotwangige Äpfel, braune Nüsse und Kartoffeln, leuchtendgelber Mais. Alles gewachsen in diesem Jahr. Speise für die Augen. Und alle beisammen, Kleine und Große, um zu singen: „Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn. Drum dankt ihm, dankt!“
Einkaufstag, auch am Samstag vorher. Die Supermärkte haben ab 7 Uhr geöffnet. Gleich am Eingang die Obst- und Gemüseabteilung. Es gibt praktisch alles: Pfirsiche aus Griechenland, Tomaten und Paprika aus Spanien, Pilze aus Polen, Bananen aus Honduras. Auch Äpfel kommen heute aus Südafrika und Argentinien, Schnittblumen aus Kolumbien oder Holland. Und alles nicht nur zur rechten Zeit, sondern zu jeder Zeit: spanische Erdbeeren im Winter, holländische Salatgurken im Frühjahr, neuseeländische Kiwis zu Weihnachten. Alles, das ganze Jahr über. Alles, und so billig!
Aber um welchen Preis? Niedrigste Löhne, zerstörte Gesundheit, vergifteter Boden, Kampf um das knappe Grundwasser anderswo. Flüge um den halben Erdball mit Blumen, Äpfeln und Avocados. Die endlose Karawane der Sattelschlepper aus Südeuropa auf den Autobahnen zu uns. Und auch ein einfacher Joghurtbecher mit Inhalt und die Milch für die Herstellung haben schon mehr als 1.000 km hinter sich, bevor das bei uns auf dem Tisch steht.
Der Boden, der alles hervorbringt, das Wasser, ohne das es kein Leben gibt, die Tiere, unsere Mitgeschöpfe: sie zahlen an vielen Orten einen hohen, einen viel zu hohen Preis.
Und auch mit den Landwirten bei uns möchte ich nicht tauschen. Wie entscheiden zwischen Markt und Politik, Preisen und Zuschüssen, dem eigenen Wissen und der Liebe zum Beruf? Bei Bodenverdichtung durch die schweren Maschinen und Bewässerungsbedarf, jetzt oft schon im Frühjahr? Zwischen Investitionen und Erträgen? Was produzieren und wie? Wie kann der Betrieb weiter bestehen, vielleicht noch für eine nächste Generation?
Erntedanktag, sollen wir’s vielleicht lieber lassen? Für unser Essen warten wir nicht auf Gott, sondern höchstens auf eine verspätete Lieferung oder auf das nächste Sonderangebot. Aber an diesem Tag haben wir einmal vor Augen, was für uns da ist. Obwohl wir es nicht „gemacht“ haben und auch gar nicht machen können. Den Boden, das Wasser, das Lebendige, das Wachstum. Höchstens kaputtmachen. Da tut uns ein Tag mit Staunen und Danken nicht nur gut, wir haben ihn bitter nötig. Wir sind Empfangende, solange wir leben.
Eingebunden in ein weltweites lebendiges Netz. In einem wunderbaren Gleichgewicht, durch Gottes Atem am Leben gehalten. Aber eben auch überlastet, vergiftet, zerstört – von Menschen. Danken und Denken, sind schon sprachlich fast Zwillinge, sie gehören ganz eng zusammen. Und ihre schöne Frucht könnte am Erntedanktag ein neues Warten sein: Ein Warten, das die meisten von uns zwischen den ganzen Waren verlernt haben:
Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt. (2. Petrusbrief 3, 11)
Das machen und schaffen wir auch nicht einfach so, oh nein. So wenig wie die Sonne, den Boden, das Wasser, das Lebendige. Das verspricht und schafft ein Anderer. Aber wir können uns danach ausrichten, ausstrecken, davon unseren Blick und unsere Schritte leiten lassen. Auch beim Kaufen und beim Verbrauchen!
Lasst uns am 6. Oktober alle zusammen Erntedank feiern. In der geschmückten Kirche. Mit großen und Kleinen. Mit Staunen und dankbaren Liedern. Am für alle reich gedeckten Tisch im Gemeindesaal. Und etwas von diesem Warten lernen.
Mit den übrigen Mitarbeitenden der Gemeinde grüßt herzlich
Ihr und euer
Pastor Stefan Maser
Er lässt die Sonn aufgehen,/ er stellt des Mondes Lauf;/
er lässt die Winde wehen/ und tut den Himmel auf.
Er schenkt uns so viel Freude,/ er macht uns frisch und rot;
er gibt den Kühen Weide/ und unsern Kindern Brot.
Alle gute Gabe kommt her von Gott dem Herrn,
drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt
und hofft auf ihn!
Matthias Claudius – eg 508