Gedanken zu Weihnachten

Sicherlich ist zu keiner Jahreszeit der Widerspruch zwischen dem äußeren Schein und der nüchteren Wirklichkeit unseres Lebens so groß wie in den Wochen vor Weihnachten in unserem mit Geldmassen und Waffen gesegneten West- Europa, das sich das Christliche Abendland nennt.


Die Symbole des Kindes, das als der Erlöser der Welt in Bethlehem geboten wurde, reichen bis in die Auslagen unserer Konfektions- und Seifenläden, und zunächst ist dieser Dezember 1954, wie alle seine Vorgänger seit Jahrzehnten, auch nichts weiter als ein großes und gewinnbringendes Geschäft. Ob es außerhalb des schmalen Kerns der christlichen Gemeinden beider Konfessionen in unserem öffentlichen Leben noch irgend etwas gibt, was tatsächlich mit jenem Jesus, der Christus war, einen Zusammenhang hat muss jeder auch nur halbwegs Ehrliche zumindest in Zweifel ziehen. Insofern hat der gedankenlose und mit einer törichten Selbstverständlichkeit betriebene Missbrauch der Vokabel „christlich“ in den Jahren seit 1945 sicher das Gegenteil von dem erreicht, was die, die ehrlichen Herzens einmal eine solche Vokabel ins öffentliche Leben stellen wollten, vielleicht zu erreichen wünschten.


Christliche Wirklichkeit im Sinne der Weihnachtsgeschichte und der aus dieser Geschichte erwachsenen Botschaft des Neuen Testaments gibt es sicher in ärmeren, bedrückteren und gefährdeteren Lebenslagen in einer gültigeren und glaubwürdigeren Form als bei uns. Denn dort gehört oft etwas dazu, sich als „Christ“ zu bekennen, dort ist es genau so wie in den Jahren zwischen 1933 und 1945 und danach in der DDR noch ein persönliches Bekenntnis, während bei uns umgekehrt lange Zeit Mut dazu gehört hat, sich offen als Nichtchrist zu bekennen oder auch nur einer bestimmten Konfession nicht anzugehören. Das alte Bild von dem Reichen, der es so schwer hat, das Himmelreich zu erlangen, wie das Kamel, das durch das Nadelöhr gehen will, ist von einer bestürzenden Aktualität für uns alle geworden. Vielleicht wird der Unterschied zwischen grundverschiedenen Lebenslagen in Deutschland und zwischen den beiden Hälften der ganzen Welt, arm und reich, an keinem Tage so deutlich wie jedes Jahr am Heiligen Abend. Wir haben die Freiheit der Verkündigung des christlichen Glaubens, aber wir haben die Glaubwürdigkeit dieser Verkündigung weithin eingebüßt. Andere müssen sich den Raum der Freiheit für ihr Bekenntnis mühsam erkämpfen; aber sie wohnen ganz ohne Zweifel näher an dem Stall von Bethlehem als wir.


Wir haben in den letzten Jahren einen mit allen Leidenschaften geführten Kampf um den evangelischen und katholischen Religionsunterricht hinter uns. Aber jeder Ehrliche weiß, dass dieser Kampf ein Streit um Worte und eine Übung am Phantom war., weil für 90% der Bevölkerung des Landes sicher die Verbindung zu Christentum und Kirche nur noch aus gesellschaftlicher Bestätigung ihres nur auf das Diesseits gerichteten Lebens besteht.


An manchen Orten, wissen wir, müssen schon die jungen Menschen in den Schulen, wenn sie sich als Christen bekennen, in die schwersten Gewissenskonflikte hinein, aber zwei oder drei aus den jungen Gemeinden in extremer Minderheitensituation, Armut oder Unterdrückung wiegen unsere ganze Betriebsamkeit „christlichen Lebens“ mit Abstand auf.
Vielleicht kann es darum der besondere Sinn dieser Zeilen sein, uns von diesen Tatsachen her ein wenig nachdenklicher zu machen und uns vor allem jenen zugehörig sein zu lassen, die es äußerlich schwerer, im Erlebnis der Weihnachtsbotschaft aber viel leichter haben als wir. Unsere Arbeit hat immer versucht, die Wege nach innen aufzuschließen. Wir wollen gerade in diesen Wochen dafür dankbar sein, dass es hinter dem gleißenden Licht unserer Großstadtstraßen, die mit nichts weiter als mit elektrischem Strom gespeist sind, jenes stille Schloss im Walde gibt, in dem viele für Tage oder Wochen Menschen sein konnten ohne Lärm und Betrieb und damit auch Menschen, denen jener „Einzig Geborene“, wie ihn die Heilige Schrift nennt, ein Bruder sein könnte.

Pastor Heinrich Albertz schrieb diesen Text 1954 für das Weihnachtsheft einer Volkshochschule, die sich als Brücke zwischen Westen und Osten verstand.
Formulierungen, die sich vor allem auf die damalige Situation zwischen und in der jungen BRD und der jungen DDR beziehen, wurden behutsam geändert.
Heinrich Albertz, SPD, war damals Minister in Niedersachsen, später Regierender Bürgermeister in Westberlin und dann wieder als kritischer Pfarrer im kirchlichen Dienst.